Papst Benedikt XVI. beendet seinen Pontifikat zusammen mit den Menschen auf dem Stadtplatz von Castel Gandolfo. Nicht wenige waren dabei, die die Tränen nicht halten konnten. Er wandte sich an die Freunde: „Ich bin einfach ein Pilger, der nun die letzte Etappe seines Weges auf dieser Erde antritt. Aber ich möchte weiterhin, mit meinem Herzen, mit meiner Liebe, mit meinem Gebet, mit meinem Denken, mit allen meinen geistigen Kräften für das allgemeine Wohl, für das Wohl der Kirche und der Menschheit weiterarbeiten“.

Um 20:00 Uhr schließt sich das Tor des Apostolischen Palastes. Der Schweizergardist hängt seine Hellebarde an die Wand. Seine Arbeit ist erledigt. Die Sedisvakanz hat begonnen. Im Apostolischen Palast wohnt kein Papst mehr. Finis.



28. August 2013

Es ist ein schöner Tag im August. Die glühende Sommerhitze, bei der der Asphalt so erweicht, dass die Absätze der Schuhe Spuren hinterlassen, oder auch die (verzweifelte) Idee aufkommen könnte, auf einem der Lavasteine Roms ein Spiegelei zu rösten, ist nach einem Gewitter während der Nacht einer milderen Luft gewichen – mild für den Römer, immer noch glühend heiß für die nordischen Touristen. Trotz allem füllen sie den Petersplatz und bilden eine viele Meter lange Schlange, die sich wie ein Schneckenhaus um sich windet, um in die vatikanische Basilika zu gelangen, die Grabeskirche des heiligen Apostelfürsten Petrus, des Felsens, auf dem Christus seine Kirche errichtet hat.


Petrus

Der Sommer 2013 ist ein besonderer Sommer: der Papst hat Rom nicht verlassen, und obwohl sich seine öffentlichen Auftritte auf den sonntäglichen Angelus beschränken, scheint er auf die Menschen eine so große Anziehungskraft auszuüben, dass die Via Porta Angelica, die zum Eingangstor des Vatikans, der Porta Sant’Anna, führt, Tag um Tag, Stunde um Stunde einem einzigen Menschenstrom gleicht. Durch diesen muss man durch, nicht nur um zur Petersbasilika zu gelangen, sondern auch um zum „engeren Bereich des heiligen Petrus“ vordringen zu können.

Petrus auf dem Berg

Es gibt Tage, an denen man spürt und nachher weiß, dass nichts mehr so sein wird, wie es vorher war. Tage, an denen man sich bionische Sinnesorgane wünscht, die alles genau aufzeichnen. Doch: das Sinnliche fällt dann in etwas Tieferes, das nie eingefangen werden kann. Unterwegs zum engeren Bereich des Petrus, hinauf auf den Berg zu Benedikt XVI., hinauf auf den Berg des Gebets. Unvermittelt stellt sich die Erinnerung an den letzten Angelus vom 24. Februar 2013 ein, vier Tage vor dem Beginn der Sedisvakanz. Gebet bedeutet nicht, so sagte der Papst mit einem prophetischen Blick in die Zukunft, sich von der Welt und ihren Widersprüchen abzusondern, wie dies Petrus auf dem Tabor gern getan hätte. Sondern: das Gebet führt zurück auf den Weg, zurück zum Handeln. Gebet besteht darin, „den Berg der Begegnung mit Gott immer wieder hinaufzusteigen, um dann, bereichert durch die Liebe und die Kraft, die sie uns schenkt, wieder hinabzusteigen und unseren Brüdern und Schwestern mit der gleichen Liebe Gottes zu dienen“.

Am Berg

Der Weg ist – wie es bei einem römischen Hügel normal ist – zwar nicht sonderlich steil, aber er zieht sich hinauf in die Vatikanischen Gärten und ist doch etwas anstrengend. Das Kloster „Mater Ecclesiae“ liegt „oben“, nicht allzu weit vom Palazzo del Governatorato entfernt.


Ein freundlicher Offizier der Schweizergarde bietet seine Begleitung mit einem Fahrzeug an. Er müsste dies nicht tun. Die Schweizergarde steht ausschließlich im Dienst des Nachfolgers Petri, wie jene dramatischen Bilder vom 28. Februar 2013 um 20:00 Uhr bezeugten: die Schweizergarde zog in der Nacht vom Apostolischen Palast in Castel Gandolfo ab, da ihn kein Papst mehr bewohnte. „Der Rest“ des Sicherheitsdienstes gehörte nun in den ausschließlichen Kompetenzbereich der Vatikanischen Gendarmerie.

Dennoch ist es dem Offizier ein Anliegen, den Gast des emeritierten Papstes bis zum Eingangstor des Klosters zu begleiten. Um ihn dann dort alleine zu lassen, alleine mit sich selbst.

Der Berg

Die Tür des Klosters öffnet sich, so dass man die letzten Schritte durch den kahlen Vorhof der Gebäudeanlage, die den Eindruck eines Neubaus erweckt, unter praller Sonne auf diese dunkle Öffnung hin zurücklegt. Wenige Sekunden trennen das „Draußen“ vom „Drinnen“. Sekunden, die sich erstaunlicherweise ausdehnen ob dessen, was einen erwartet, in einem Wirbel der Geschichte, der aus der Vergangenheit heraus die Gegenwart einnimmt und in die Zukunft weist.

Ecce Homo – vor dem Abgrund des Geheimnisses

Das Vorzimmer im Erdgeschoss ist klein und bescheiden, fast schmucklos. Ein gemischter Geruch ist wahrzunehmen, der besondere Atem des Hauses, ein Geruch, bei dem neben allem anderen die Grundnote des Duftes einer reich ausgestatteten Bibliothek durchsticht, die sich irgendwo, aber nicht zu weit weg befinden muss. An der einen Wand des Raumes – ein Gemälde, das dem dornengekrönten Schmerzensmann Guido Renis nachempfunden ist: „Ecce Homo“. Unter ihm steht auf einer einfachen Kommode eine filigran anmutende Porzellanstatue einer Pietà, der Gottesmutter mit dem toten Christus auf dem Schoß: zwei Zeichen, in denen das Geheimnis Christi und des Menschen zusammengefasst ist. An der gegenüberliegenden Wand ein Bild des heiligen Augustinus mit dem Knaben am Meer.

Die Legende vom heiligen Augustinus und dem Knaben am Meer ist die berühmteste und in der Ikonographie am meisten verbreitete der Augustinuslegenden. Sie handelt von der Entstehung seines Werks über die allerheiligste Dreifaltigkeit „De Trinitate“. Es wird erzählt, dass der Heilige am Meer spazieren geht und am Ufer einen Knaben sieht, der mit einer Muschel Wasser in ein in den Sand gegrabenes Loch schaufelt. Immer wieder läuft der Knabe an den Uferrand, um neues Wasser zu schöpfen und es in die Sandmulde zu gießen. Augustinus fragt den Knaben nach dem Zweck seines Tuns. Dieser antwortet, er wolle das ganze Meer in das Loch schöpfen. Schmunzelnd erwidert Augustinus, dass dies unmöglich sei. Darauf erwidert ihm der Knabe, dass dies eher möglich sei, als dass Augustinus auch nur den kleinsten Teil der Geheimnisse der Dreifaltigkeit in seinem Buch auszuschöpfen vermöchte.

Die Wirklichkeit Gottes im Bild, das Antlitz Christi und dessen Geheimnis, das Bild des Augustinus: ein schier überwältigendes Präludium für die Begegnung mit jenem, der wie wenige andere in die Abgründe und Tiefen des Geheimnisses der Offenbarung hinabgestiegen ist, der sein Leben mit Augustinus verbracht hat, der wie der Heilige von Hippo Lehrer der Kirche ist.

Auf dem Gipfel

Die Fügung hat es gewollt, dass es der Festtag des heiligen Augustinus ist, an dem sich Benedikt XVI. eine Stunde Zeit genommen hat. Eine Stunde. Eine ganze Stunde.

Gleich neben dem Aufzug, der in den ersten Stock des Klosters bringt, Wohn- und Arbeitsbereich des emeritierten Papstes, liegt das Vorzimmer zu seinen Gemächern, Teil der Bibliothek. Die Herkunft jenes Duftes ist nun geklärt. Benedikt XVI. wartet bereits, stehend und ohne Stock. Ein letztes Gedankenordnen – das geht nicht mehr. Die Gestalt in Weiß, klein und dem Alter entsprechend gebrechlich, vermittelt eine innere Stärke. Mit langem weißem strahlendem Haar, einem liebevoll durchdringenden Blick scheint sie den Raum auszufüllen, ja mehr noch: es ist, als befinde man sich unvermittelt an einem besonderen Raum-Zeit-Ort des Universums.

Die Hände, die sich dem Ringkuss nicht entziehen, sind fest, so fest, wie man sie immer schon kannte. Der Blick Seiner Heiligkeit ist verwandelnd, fern jeglicher Gewöhnlichkeit. Benedikt XVI. lädt ein, Platz zu nehmen, erkundigt sich über Bekannte aus der gemeinsamen bayerischen Heimat, er hört den Dank für sein Wirken, in dem Wissen, dass dieser Dank nur dann Sinn hat, wenn seine Lehre weitergeführt wird. Plötzlich wird bewusst, wie anekdotenhaft und am Wesentlichen vorbei doch so manche Berichte derer waren, die vorher auf jenem Sessel gesessen hatten.

Benedikt XVI. spricht mit den Händen, wie die Welt dies aus fast 400 Katechesen zu den Generalaudienzen kannte, aus seinen Predigten, aus seiner Form der „lectio divina“. Die Hand gestaltet sanft den Inhalt mit, das gesprochene Wort ist „Text“.

Die rechte Philosophie, der Glaube, die Vernunft, die kirchliche Theologie, der Sinn von „Kontinuität“ – das Geheimnis Christi, die Hoffnung für die Zukunft, die Besorgnis darüber, dass ein kirchliches System der Kommunikation und Information etabliert wurde, das nicht den Glauben verbreitet, sondern sich in sich selbst und im Geist der Welt erschöpft – tiefgründig und konkret durchstreift der emeritierte Papst Landstriche der Gegenwart, die Ergebnis einer oft auseinandergelaufenen Geschichte sind. Benedikt XVI. ist wie ein Trichter, der nach zwei Richtungen hin offen ist: aus der Vergangenheit heraus, um für die Zukunft etwas hoffen zu können. Fern von allem Geschrei der Gegenwart, damit diese sich in Wahrheit erkennen kann.

Das „Erwachen“ – es ist die erste Hoffnung Benedikts XVI. Das Erwachen nach den Zusammenbrüchen – der Philosophie, der Theologie, des kirchlichen Lebens, um erneut zum ursprünglich Katholischen vorzudringen, zur Erkenntnis der großen Grundfragen in ihrem Bleiben: der Gottesfrage, Christus, der Kirche.

Kontinuität – das ist für Benedikt XVI. weder Kampfwort noch Oberbegriff, unter dem alles untergebracht werden könnte. Kontinuität des Denkens und des Lebens gehören zusammen. Denn: wenn Kontinuität in den Grundvollzügen der Kirche – in der Liturgie, in der Volksfrömmigkeit, in der Spiritualität, beim Bußsakrament – gegeben ist und gesucht wird, dann entstehen Lebenshaltungen, und das Denken findet so einen Mutterboden, aus dem es sich entwickeln kann.

Der Emeritus ist überzeugt: Die Leute spüren – wie deutlich wird – die Gefährdung durch die Zeit und klammern sich sozusagen an das Fassbare, das zu einem scheinbaren Schutzwall wird. Deshalb bedarf es der Hilfe Gottes, der Hinwendung zum „eschaton“, der eschatologischen Dimension, die tröstet, stärkt und den Weg weist.

Zurück ins Tal

„Mater Ecclesiae“ – das Kloster liegt nun in strahlendem Sonnenlicht. „Mater Ecclesiae“, die einen Vater der Kirche schützend in ihre Obhut genommen hat. Zu Fuß zurück ins Tal. In den Lärm. Hinein in die Masse, hinein in das Gewirr, vor Reichtum, Schönheit und Drama, die jedes Individuum in sich birgt, um es immer wieder zum Wesentlichen zu führen, es die Freude des Glaubens sehen zu lassen, wie dies Benedikt XVI. sagt. Gewiss, es ist nicht leicht. Auch für diese Rückkehr, für dieses Hinabsteigen braucht es Zeit. Im Gepäck: ein bleibendes und lebendiges Erbe.



28. Februar 2014

„Buona notte!“ – „Gute Nacht“ sind die letzten Worte des Pontifikats Benedikts XVI. Der Papst drehte sich um und verließ den Balkon des Apostolischen Palastes von Castel Gandolfo. Überall auf der Welt versammelten sich Gläubige zum Gebet, das bis lang in die Nacht hinein dauern sollte: dankbares Gebet für Benedikt XVI., fürbittendes Gebet für die Kardinäle und das Konklave, hoffendes Gebet für den neuen Papst.

„Buona sera!“ – „Guten Abend!“ sind die ersten Worte des neuen Pontifikats: sie erklangen dreizehn Tage später auf einem anderen Balkon. Papst Franziskus, der Mann vom Ende der Welt, trat vor sein Volk und bat es um das Gebet für sich.

Der Rest ist die Geschichte des vergangenen Jahres: die Geschichte dieser Zeit.